"Der Schleier ist nur ein Vorwand, wir wollen Brot und den Sturz des
Regimes." - Wir trafen uns mit Assareh Assa, einer iranischen Genossinim französischen Exil, zu einem Interview, das den iranischen Aufstand
von 2022 nach der Ermordung von Mahsa Jina Amini nachzeichnet. Im ersten
Teil beleuchten wir den Erfolg der Bewegung aus der Perspektive der
Frauenfreiheit, ihre Grenzen in sozialen Fragen, Repression und
Nationalismus im Iran. Im zweiten Teil spricht Assareh über den
Israel-Iran-Krieg, die Lage der iranischen Arbeiterklasse und den
"faschistischen" Charakter des Regimes.
Der zweite Teil erscheint in einer späteren Ausgabe. (*)
Können Sie uns heute, mit dem Abstand der Zeit, helfen, die Bedeutung
des "Frau, Leben, Freiheit"-Aufstands nach der Ermordung von Jina
(Mahsa) Amini neu zu interpretieren?
Die Bewegung, die nach der Ermordung von Jina Amini im September 2022
ausbrach, markierte einen historischen Wendepunkt. Zum ersten Mal gingen
Frauen und Männer im ganzen Land so breit und spontan auf die Straße, um
die Islamische Republik offen herauszufordern.
Der Satz auf ihrem Grabstein - "Jina, du wirst nicht sterben, dein Name
ist unser Motto" - vereinte Millionen im Ruf nach Freiheit, legte aber
gleichzeitig die tiefen Widersprüche der iranischen Gesellschaft offen.
Der Name Jina, einer jungen Kurdin, die von der Sittenpolizei getötet
wurde, ist zu einem universellen Symbol des Widerstands gegen die
strukturelle Frauenfeindlichkeit des Regimes geworden. Gleichzeitig
verdeutlichte er die Kluft zwischen denen, die eine soziale Revolution
anstreben, und denen, die sich mit oberflächlichen Reformen
zufriedengeben. Dieser Aufstand war nicht nur eine Revolte gegen den
Schleierzwang: Er war ein Akt kollektiven Ungehorsams gegen das gesamte
theokratische System, seine Unterdrückung und seine Ungerechtigkeiten.
Wie wurde Jinas Name - und die Entscheidung, sie mit diesem Namen oder
ihrem "offiziellen" Namen Mahsa anzusprechen - zu einem politischen und
symbolischen Element der Spaltung?
Der Unterschied zwischen "Jina" und "Mahsa" ist kein sprachliches
Detail, sondern ein politischer Bruch.
"Jina" war ihr kurdischer Name, der im Iran jedoch vom Staat nicht
anerkannt wurde, da in offiziellen Dokumenten persische Namen
vorgeschrieben sind. Sie "Mahsa" zu nennen bedeutete daher, die
Auslöschung der kurdischen Identität zu akzeptieren, während sie "Jina"
zu nennen ein Akt des Widerstands und der Anerkennung der ethnischen
Vielfalt des Landes war. Während des Aufstands zogen es die
reaktionärsten und nationalistischsten Kräfte vor, ihn als
"Mahsa-Aufstand" zu bezeichnen, während die radikaleren, den
Minderheiten wohlgesonnenen Kreise ihn stets als "Jina-Aufstand"
bezeichneten. Diese einfache Wortwahl offenbarte zwei Weltanschauungen:
zum einen jene, die die Bewegung auf eine Frage der Moral oder der
Traditionen reduzieren wollten; Auf der anderen Seite gab es jene, die
darin einen Kampf gegen den patriarchalischen und nationalistischen
Staat in seiner Gesamtheit sahen. Die Islamische Republik nutzte diese
Ambivalenz aus und schürte paniranische Gefühle, um die Rebellen zu
spalten und die Kurden zu isolieren, die seit Jahrzehnten im Zentrum der
Repression stehen. Deshalb sage ich, dass der Name "Jina" sowohl die
Stärke als auch die Zerbrechlichkeit dieser Bewegung verkörpert: den
universellen Wunsch nach Freiheit und gleichzeitig die Schwierigkeit,
die verschiedenen Teile der iranischen Gesellschaft unter einem
gemeinsamen Projekt zu vereinen.
Welche konkreten Errungenschaften und Einschränkungen hatte dieser
Aufstand im Hinblick auf die Freiheit der Frauen im Iran?
Der Jina-Aufstand veränderte das Bild und die Präsenz von Frauen im
iranischen öffentlichen Raum grundlegend.
Heute, insbesondere in den Großstädten, kleiden sich viele Frauen so,
wie sie möchten, ohne Schleier oder in einem freizügigeren
Kleidungsstil, der bis vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre. Nicht
weil das Regime es erlaubt, sondern weil Frauen diese Freiheit mit ihrer
täglichen Entschlossenheit erkämpft haben. In diesem Sinne gibt es
tatsächlich ein "Vorher" und ein "Nachher", Jina.
Doch es handelt sich um eine relative, ungleiche Freiheit, geprägt von
tiefgreifenden sozialen Unterschieden. Frauen aus wohlhabenden Schichten
können sich leichter dem Gesetz widersetzen, während Frauen aus der
Arbeiterklasse und aus den Vororten Verhaftung, Gewalt oder gar den Tod
riskieren. Die Machthabenden wissen das genau und versuchen, mit neuen
restriktiven Gesetzen zu reagieren: Sie haben ein repressives
Maßnahmenpaket mit harten Strafen verabschiedet, können es aber - gerade
wegen des Widerstands der Frauen - nicht vollständig durchsetzen.
Hinter den Bildern, die in den sozialen Medien kursieren - Partys, Tanz,
unbedecktes Haar - verbirgt sich jedoch eine bittere Realität: Vor dem
Gesetz ist eine Frau immer noch nur halb so viel wert wie ein Mann,
Abtreibung ist verboten, Verhütungsmittel sind immer schwerer zu
beschaffen, und häusliche Gewalt bleibt ungestraft.
Die auf der Straße errungene Emanzipation hat sich weder in konkrete
Rechte noch in eine wirkliche Verbesserung der materiellen
Lebensbedingungen niedergeschlagen. Die individuelle Freiheit hat einen
Durchbruch erzielt, aber sie hat das patriarchale und theokratische
System, das den Iran beherrscht, nicht gestürzt.
Kann man sagen, dass sich die Lage der iranischen Frauen seit dem
Aufstand wirklich verändert hat, oder nur für einen Teil der Gesellschaft?
Der Wandel ist real, aber nicht für alle gleichermaßen. In den
Großstädten genießen junge Frauen und Frauen der Mittelschicht mehr
Freiheit im Alltag: Sie kleiden sich, wie sie wollen, veranstalten
Partys und äußern sich gegen das Regime. Doch all dies geschieht in klar
definierten sozialen Räumen, die oft durch wirtschaftliche Privilegien
geschützt sind. Frauen aus der Arbeiterklasse und der Unterschicht
hingegen leben in einer anderen Realität. Sie müssen weiterhin den
Schleier tragen und sind ständiger Überwachung, Gewalt und
Lohndiskriminierung ausgesetzt. Für sie bleibt die Repression eine
tägliche Bedrohung. Es herrscht eine zweigeteilte Freiheit, und das
Regime nutzt dies aus, um die Kontrolle zu behalten: Es lässt Spielraum
für Toleranz, wo es keine Revolte fürchtet, geht aber hart gegen
Unzufriedenheit vor, wo sie sich zu politischer Organisierung entwickeln
könnte.
Letztlich zeigte der Jina-Aufstand, dass individuelle Freiheit - so
wichtig sie auch sein mag - unzureichend ist, wenn sie losgelöst vom
kollektiven Kampf um Brot, Arbeit und soziale Gerechtigkeit bleibt. Dies
ist der Kern des Problems, das die iranische Gesellschaft noch immer
nicht gelöst hat.
Sie haben oft über den "sozialen" Charakter des Aufstands gesprochen:
Inwieweit gelang es dem Jina-Aufstand, die Arbeiterklasse und die breite
Bevölkerung einzubinden?
Die Beteiligung der Bevölkerung war breit gefächert, aber ungleichmäßig.
Der "Frauen, Leben, Freiheit"-Aufstand umfasste viele junge Menschen,
Studierende, Frauen in den Städten und prekär Beschäftigte. Die
organisierte Arbeiterklasse - die Beschäftigten in Fabriken, im
Transportwesen und im Ölsektor - beteiligte sich jedoch nicht umfassend
an der Bewegung. Die Gründe dafür sind vielfältig: Angst,
Zersplitterung, vor allem aber der Mangel an politischer Koordination,
die die Forderungen der Geschlechter mit den wirtschaftlichen
Forderungen hätte vereinen können.
Dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass die Repression in erster Linie
die Arbeiter traf. Viele der getöteten oder hingerichteten Demonstranten
stammten aus der Arbeiterklasse: Arbeiter, Arbeitslose und Kinder aus
Arbeiterfamilien. Die Machthaber wussten dies und schlugen mit brutaler
Härte genau dort zu, wo der Aufstand zu einer systemischen Bedrohung
hätte werden können.
Das dramatischste Beispiel ist das Todesurteil gegen die
Arbeiteraktivistin Charifeh Mohammadi - ein in Iran nahezu beispielloses
Ereignis. In der Vergangenheit hatte das Regime zwar Kommunisten,
Mudschaheddin und kurdische Peschmerga hingerichtet, aber selten einen
einfachen Arbeiter, der in Gewerkschaften aktiv war.
Mit dieser Geste wollte der Staat ein Zeichen setzen: Jeder, der
versucht, die Arbeiterklasse gegen das Regime zu organisieren, wird
vernichtet.
Kurz gesagt: Der Aufstand hat ein enormes Potenzial für
gesellschaftliche Annäherung aufgezeigt, aber noch keine
Organisationsform gefunden, die die Kämpfe von Frauen, Arbeitern und
Minderheiten in einer gemeinsamen Front vereinen könnte.
Die Repression war brutal. Wie schwer wiegt diese Gewalt heute noch, und
welche Formen des Widerstands bestehen innerhalb und außerhalb
iranischer Gefängnisse fort?
Die Repression war rücksichtslos und prägt weiterhin den Alltag im Land.
Tausende Menschen wurden bei Demonstrationen verletzt, getötet oder
verhaftet. Hunderte wurden zum Tode verurteilt, und mindestens ein
Dutzend wurden bereits hingerichtet. Iranische Gefängnisse sind
überfüllt mit politischen Gefangenen, von denen viele systematischer
Folter ausgesetzt sind.
Doch die staatliche Gewalt schreckt nicht vor direkten Gegnern ab: In
den letzten drei Jahren wurden über dreitausend Todesurteile
vollstreckt, oft gegen einfache Häftlinge, um Angst und Schrecken in der
Gesellschaft zu verbreiten.
Trotz allem ist der Widerstand nicht gebrochen worden. Innerhalb der
Gefängnisse hat sich eine stille, aber kraftvolle Bewegung entwickelt:
Jeden Dienstag beteiligen sich Tausende Häftlinge an kollektiven
Hungerstreiks gegen die Todesstrafe. Es ist eine Form des Kampfes von
enormem moralischem Wert, die jedoch leider außerhalb des Gefängnisses
noch nicht genügend Resonanz gefunden hat.
Die Brutalität des Regimes schwächte die Bewegung zwar, aber sie löschte
sie nicht aus. Im Gegenteil, sie zeigte, wie gefürchtet sie war. Das
eigentliche Problem war nicht die Gewalt an sich, sondern der Kontext,
der sie wirksam machte: die Isolation der Rebellen, der Mangel an
organisierter Unterstützung, die Spaltungen zwischen Klassen und
ethnischen Gruppen. Repression allein erklärt das Scheitern des
Aufstands nicht; so verheerend war die Tatsache, dass viele,
konfrontiert mit staatlicher Gewalt, sich in diesem Kampf nicht
wiedererkannten.
Sie haben den iranischen Nationalismus als entscheidenden Faktor für das
Scheitern der Bewegung identifiziert. Können Sie das erläutern?
Ja, ich glaube, der iranische Nationalismus ist eine der chronischen
Krankheiten unserer Gesellschaft.
Zu Beginn des Aufstands entstand eine unerwartete Solidarität zwischen
Kurden, Persern, Belutschen, Arabern und anderen Minderheiten. Doch
diese Einheit zerbrach, sobald die Bewegung das Regime ernsthaft bedrohte.
Die Frage nach Irans "territorialer Integrität" - für viele ein Tabu -
ist mit Nachdruck wieder aufgeflammt. Als die Kurden ihre Identität
zurückerlangten oder andere marginalisierte Regionen rebellierten,
distanzierten sich viele "nationale" Iraner aus Angst vor "Separatismus".
Das Regime nutzte diesen nationalistischen Reflex aus und inszenierte
sich als Garant der nationalen Einheit gegen "ethnisches Chaos". In
einem Land, das von Ungleichheiten und gegenseitigem Misstrauen geprägt
ist, hat dieser Diskurs funktioniert. Anstatt die verschiedenen Kämpfe
gegen den theokratischen Staat zu vereinen, bot der Nationalismus den
Machthabern somit ein Instrument zur Spaltung.
Letztendlich ist der iranische Nationalismus eine Ideologie, die die
Gesellschaftsordnung der Islamischen Republik verteidigt:
patriarchalisch, autoritär, zentralistisch. Die Sprache ändert sich -
religiös oder patriotisch -, doch die Logik bleibt dieselbe: Pluralität
leugnen und ein einheitliches Modell von Nation, Kultur und Macht
aufzwingen. Solange der Nationalismus im kollektiven Bewusstsein
verankert ist, kann in Iran keine Revolution wirklich befreiend wirken.
Wie manifestierte sich die Spaltung zwischen den verschiedenen
Nationalitäten Irans - Kurden, Belutschen, Arabern und Aserbaidschanern
- während oder nach dem Aufstand?
Anfangs entfachte der Jina-Aufstand eine bewegende Einheit. Von Saqqez
im iranischen Kurdistan aus breiteten sich die Demonstrationen über das
ganze Land aus: Teheran, Täbris, Ahvaz, Zahedan. Für einen Moment
schienen ethnische Barrieren in einer einzigen Stimme zu verschmelzen.
Doch diese Einheit war nur von kurzer Dauer. Mit zunehmender Repression
traten alte Vorurteile wieder zutage: Viele persischsprachige Iraner
betrachteten die toten Kurden, Araber oder Belutschen nicht mehr als
"die Ihren". Als mehrere kurdische Gefangene hingerichtet wurden,
schwiegen die zentralen Regionen des Landes.
Das Regime schürte diese Spaltung mit einer simplen und verhängnisvollen
Botschaft: "Wer in Kurdistan oder Belutschistan protestiert, will den
Iran zerstören." Und ein Teil der Bevölkerung glaubte es.
Diese Isolation der Randgebiete war fatal für die Bewegung. Die Angst
vor einem hypothetischen Zerfall des Landes überwog die Solidarität der
Klassen und Geschlechter.
Hinter dieser Reaktion verbirgt sich eine tiefere Wahrheit: Die
Islamische Republik hat den iranischen Nationalismus nicht erfunden,
sondern ihn geerbt und als Fundament ihrer Macht genutzt. Es ist eine
Form des Patriotismus, die jede Andersartigkeit als Bedrohung ansieht.
Und solange Minderheiten weiterhin als "Gäste" und nicht als integraler
Bestandteil der Nation behandelt werden, wird keine Bewegung das gesamte
iranische Volk wirklich vereinen.
Welche Rolle spielten die Rückkehr der monarchistischen Front und die
Figur des Schahssohnes in der Krise der Bewegung?
Die Rückkehr der monarchistischen Front war einer der raffiniertesten -
und zugleich verhängnisvollsten - Schachzüge für den Aufstand.
Gerade als die Bewegung begann, sich radikal zu positionieren, erklärte
sich der Sohn des Schahs zur "Alternative" des Regimes und startete die
Kampagne "Ich delegiere an den Prinzen", als müsse das Volk seine
Freiheit einem neuen Herrscher anvertrauen.
Dieses Manöver, verstärkt durch die Medien und unterstützt von
prowestlichen und proisraelischen Kreisen, spaltete die Opposition: auf
der einen Seite jene, die eine soziale Revolution wollten, auf der
anderen jene, die von einer Rückkehr zur Monarchie träumten.
Das Regime nutzte diese Spaltung zynisch aus. Es ermöglichte dem
monarchistischen Lager, an Sichtbarkeit zu gewinnen, gerade weil es dazu
diente, die Opposition zu diskreditieren und von sozialen Problemen
abzulenken. Zudem scharten sich viele ehemalige Reformer und
Regimefunktionäre, die jahrelang mit der Islamischen Republik
kollaboriert hatten, um den Sohn des Schahs. Dies machte die Kontinuität
zwischen den beiden Systemen noch deutlicher: Monarchie und
Klerikermacht als zwei Ausprägungen desselben Autoritarismus.
Der Prinz selbst hat erklärt, dass er im Falle seiner Rückkehr auf den
Thron die bestehenden Repressionsapparate, einschließlich der
Revolutionsgarden, beibehalten würde. Mit anderen Worten: Er verspricht
eine "erneuerte" Monarchie, die auf denselben Strukturen der Gewalt und
Kontrolle beruht.
Deshalb sage ich, dass die Monarchie keine Alternative ist: Sie ist das
Spiegelbild der Islamischen Republik, einer reaktionären Vergangenheit,
die die Machthabenden wiederbelebt haben, um uns die Vorstellung einer
freien Zukunft zu verwehren.
Warum sagen Sie, dass Monarchie und Islamische Republik letztlich zwei
Seiten derselben Medaille sind?
Weil beide dieselbe Logik der Macht verkörpern: Autoritarismus,
Patriarchat, Zentralismus und Verachtung der Arbeiterklasse. Das Regime
des Schahs präsentierte sich als "modernisierend" und "aufgeklärt", doch
seine wirtschaftliche Entwicklung basierte auf Unterdrückung,
Ungleichheit und Abhängigkeit vom Westen. Die Islamische Republik, die
sich selbst als "revolutionär" und "antiimperialistisch" bezeichnete,
reproduzierte dasselbe Modell und ersetzte den Monarchenkult durch den
Kleruskult.
Heute versuchen Monarchisten, die Geschichte umzuschreiben und die
Schah-Ära als goldenes Zeitalter darzustellen, das vom Wahnsinn des
Volkes unterbrochen wurde. Doch diese Erzählung entstand gerade dank der
Islamischen Republik, die die revolutionären Akteure von 1979
eliminierte oder zum Schweigen brachte und die Geschichte zu ihrem
Vorteil umschrieb. So wurde das kollektive Gedächtnis verfälscht: Die
neuen Generationen, die nur das Elend der Gegenwart kennen, fragen sich
schließlich, ob "damals vielleicht alles besser war". Es ist diese
gegenseitige Verfälschung, die Monarchie und Islamische Republik
komplementär macht.
Wirtschaftlich und kulturell verteidigen beide die kapitalistische,
patriarchalische und nationalistische Ordnung. Erstere im Namen der
Moderne und des Westens, letztere im Namen von Religion und Tradition.
Doch das Ergebnis bleibt dasselbe: die Ausbeutung der Arbeiter, die
Unterdrückung der Frauen und die Verleugnung von Minderheiten. Deshalb
sage ich, dass sie sich gegenseitig bedingen: Jedes dient dem anderen,
um als falsches Gegenstück zu überleben, als verzerrter Spiegel, der das
iranische Volk daran hindert, sich eine wahrhaft emanzipatorische
Alternative vorzustellen.
Glauben Sie, dass im Iran heute die Voraussetzungen für das Entstehen
einer neuen revolutionären Bewegung gegeben sind? Und wie stehen ihre
Chancen?
Der Iran befindet sich derzeit in einer explosiven, aber auch von
Unsicherheit geprägten Lage.
Einerseits steckt das Regime in einer tiefen Krise: Wirtschaftlicher
Bankrott, weit verbreitete Korruption, internationale Isolation und der
Verlust moralischer Legitimität haben seine Grundlagen untergraben.
Andererseits ist die Arbeiterklasse erschöpft und der Zorn wächst, doch
es fehlt ihr an einer Organisation, die ihr eine politische Richtung
geben könnte.
Die materiellen Voraussetzungen für einen neuen Aufstand sind gegeben -
Hungerlöhne, Arbeitslosigkeit, himmelschreiende Ungleichheit, junge
Menschen ohne Zukunft -, doch es fehlen weiterhin die kollektiven
Strukturen, die den Protest in ein revolutionäres Projekt verwandeln
könnten.
Gewerkschaften und feministische Netzwerke werden überwacht, politische
Parteien verboten, und jede Form der Koordination wird im Keim erstickt.
Doch unter dieser Oberfläche des Schweigens regt sich eine Welle der
Solidarität: Arbeiter organisieren sich informell, Frauengruppen leisten
Widerstand in Schulen und Krankenhäusern, Studierende verbreiten
weiterhin heimlich Informationsmaterial.
Viele warten auf den nächsten Funken: Er könnte von einer neuen Episode
staatlicher Gewalt, einem wirtschaftlichen Zusammenbruch oder einem
regionalen Konflikt ausgehen. Monarchisten hoffen, dass Israel dies mit
einem Militärschlag provozieren wird, doch ihr Aufruf zur Mobilisierung
verhallt ungehört: Niemand will eine weitere Abhängigkeit, noch eine
"Befreiung" durch Bomben.
Schließlich: Welche politische Lehre hält der Jina-Aufstand drei Jahre
später für uns bereit?
Der Jina-Aufstand lehrte uns zwei grundlegende Wahrheiten. Erstens: Eine
Revolution entspringt keiner Ideologie, sondern einer gelebten
Erfahrung: der Geste einer Frau, die auf der Straße ihren Schleier
abnimmt, eines jungen Mannes, der sich der Polizei widersetzt, einer
Mutter, die um ihre ermordete Tochter schreit. Diese Gesten,
vervielfacht, erschütterten das ganze Land und zeigten, dass Macht nicht
unbesiegbar ist.
Zweitens: Individuelle Freiheit allein genügt nicht. Ohne eine solide
soziale Basis, ohne die organisierte Beteiligung der Arbeiterklasse,
läuft selbst der mutigste Aufstand Gefahr, unterdrückt oder
instrumentalisiert zu werden.
Das Regime überlebte, weil es ethnische, Klassen- und
Geschlechterspaltungen ausnutzte und weil die Opposition reformistischen
Illusionen oder monarchistischer Nostalgie verfiel.
Doch nicht alles ist verloren. Der Jina-Aufstand hinterließ ein
unumkehrbares Erbe: Er brach das Tabu der Angst und gab einer Generation
eine Stimme, die das Schweigen nicht länger hinnimmt.
In Fabriken, Universitäten und Dörfern ist ihr Name weiterhin ein
Synonym für Freiheit.
Und selbst wenn das Regime heute noch stark erscheint, ist seine
moralische Autorität endgültig zusammengebrochen.
Wenn die nächste Welle kommt - und sie wird kommen -, wird sie
bewusster, besser organisiert und fähiger sein, den Kampf um Brot und
Freiheit zu vereinen.
Das ist Jinas wahre Lehre: Der Mut einer einzelnen Frau kann einen Riss
in die Mauer der Unterdrückung schlagen, aber nur die Solidarität eines
ganzen Volkes kann sie einreißen.
Ich glaube, die Zukunft der iranischen Revolutionsbewegung hängt davon
ab, ob es gelingt, diese zersplitterten Kräfte - Feministinnen,
Arbeiterinnen und Arbeiter, Minderheiten - in einer gemeinsamen Vision
zu vereinen. Diese Vision wird weder religiös noch monarchisch, sondern
sozial, egalitär und internationalistisch sein.
*) Der Originaltext erschien in Ausgabe 353 - Oktober 2025 von Courant
Alternative. Wir haben das Interview aus dem Französischen übersetzt und
redigiert.
https://alternativalibertaria.fdca.it/
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